Stellt Euch vor, Ihr dürft auf einen Bauernhof spazieren und für drei Tage im Stall, im Haus und auf den Feldern alle Fragen stellen, die Euch im Kopf herumgehen. Im Rahmen der bundesweiten Austausch-Aktion „Hof mit Zukunft“, die durch das „Wir haben es satt!“-Bündnis organisiert wurde, konnten Leonard und Jutta genau das tun. Wir durften den konventionellen Hof Everinghoff im Emsland, nicht weit von Rheine mit 200 Kühen kennenlernen und erfahren viel über Tierliebe und Tiergesundheit.
Jutta’s Bericht vom Hof Everinghoff: Tierliebe und Tiergesundheit
„Komm, Mäuschen, komm“ – egal ob Chef oder Azubi: im Kuhstall wird sanft gesprochen, es gibt Kosenamen und Komplimente für die Tiere. Aber „Mäuschen“? „Die sind doch so lieb“, sagt Matthias Everinghoff und streichelt eine schwarzweiße Holsteiner Kuh am Kopf, während er braunes Fleckvieh freundschaftlich am Hinterbein kratzt.
Super Stimmung auf dem Hof
Die Auszubildende Lea lernen wir als Erste kennen. Sie beginnt bald mit einer festen Stelle hier und will ihren Traum von einem eigenen Hof in direkter Nachbarschaft Stück für Stück in die Tat umsetzen.
Die 14-jährige Nachbarin kommt regelmäßig zum Helfen. Nach einem Praktikum und einem Sommerferienjob ist sie immer wieder gerne dabei. Vor allem am Samstag sind viele junge Leute auf dem Hof im Einsatz. Alle wissen, was zu tun ist, bedienen sicher die Maschinen und stimmen, wo nötig, nächste Schritte mit dem Betriebsleiter ab. Hier wird viel gelacht, die Chemie scheint zu stimmen.
Wir kommen im Wohnhaus der Eltern von Matthias unter. Seine Mutter Maria ist Hauswirtschaftsmeisterin und immer noch zuständig für die Kälberfütterung. Häufig ist sie auch beim Melken dabei und bewirtet gerne Mitarbeitende und Gäste. Sie erzählt stolz, dass der Hof schon seit rund 800 Jahren im Familienbesitz ist – eine Größe im Dorf und nicht wegzudenken aus seiner Geschichte.
Die Kühe des Hofes
200 Milchkühe leben auf dem Hof plus die Kälber beiderlei Geschlechts (bei unserem Besuch sind rund 40 in den Einzel- und Gruppen-Iglus untergebracht) sowie die heranwachsenden weiblichen Rinder.
… und ihr Futter
Die Kühe bekommen eine Ration mit eigenem und zugekauften Futter. Etwas über 80 Prozent des Futters könnten Menschen nicht essen, das ist Landwirt Everinghoff wichtig: Bei Silage aus eigenem Mais und (Klee)Gras fressen die Tiere niemandem etwas weg. Kraftfutter kauft er zu. Derzeit sind pro Kuh und Tag 1,5 Kilo Soja aus Brasilien in der Ration. Gentechnikfrei ist es, aber was in Brasilien mit dem Sojaanbau einhergeht, ist auch für den Betriebleiter eine große Sauerei.
Wir diskutieren auch hier über Alternativen und Perspektiven. Die Sojaimporte müssen runter, da sind wir uns sofort einig. Matthias kann sich vorstellen, später einmal für die eigenen Tiere Lupinen anzubauen und so die Eiweißkomponente selbst zu ziehen.
Beim Thema Tierfutter müsse aber noch viel mehr passieren. Ein Punkt ist das Verbot des Verfütterns von Lebensmittelabfällen. Gerade für die Allesfresser Schweine wären die perfekt. Als vor vielen Jahren die BSE-Krise die Politik erschütterte, hatten die Verantwortlichen ein komplettes Verbot der Verfütterung von Lebensmittelabfällen erlassen. Das sei aber übers Ziel hinaus gegangen. Matthias und seine Frau Ina kennen den lokalen Gastronomen gut. Allein dort fallen große Mengen gute Lebensmittel an, die in den Müll wandern. Sie wollen, dass sich das ändert.
Melken
Morgens von 5.15 Uhr bis 8.15 Uhr ist es die erste Aufgabe des Tages, nachmittags von 17.00 bis 19.00 Uhr nicht immer die letzte. Sechs Stunden pro Tag dreht sich alles um den Melkstand und die Milch – und das sind emsige Stunden. Mindestens zwei Leute im Melkstand melken die Kühe an, reinigen die Euter, setzen die Melkmaschine an, überwachen die computergestützte Milcherfassung, achten auf die Zeichen für Krankheiten bei den Tieren, behandeln die Euter mit einem Desinfektions-Mittel nach dem Melken.
Eine Person hat die Aufgabe die Kühe, die in mehreren festen Gruppen in ihren jeweiligen Ställen stehen, nacheinander in den Wartebereich des Melkstandes zu treiben. Das ist eine logistische Herausforderung. Immer müssen die richtigen Tore geöffnet und geschlossen sein. Denn bald werden die fertig gemolkenen Kühe auf einem Laufgang neben dem Melkstand zurück getrieben. Zu Stau oder Gruppen-Durcheinander soll es nicht kommen.
Jede zweite Nacht kommt der Milchlaster der Molkerei Mertens und holt einen bis oben gefüllten Milchtank ab – ein großer Teil der Milch landet in Sahne und Torten der Firma Coppenrath und Wiese, ein Hof in der Nähe nimmt eine kleine Menge direkt ab und stellt daraus Eiscreme her.
Die schlimmste Erfahrung
Matthias erzählt von seiner schlimmsten Zeit auf dem Hof: 2017 erkrankten mehrere seiner Kühe an BHV1, dem Rinder-Herpes-Virus. Die ersten starben, die Infektion breitete sich rasend schnell aus. In solch einem Fall muss das Vorgehen mit den amtlichen Tierärzten eng abgestimmt werden. Die Krankheit gehört zu den meldepflichtigen Seuchen. Es war der Worst-Case: Matthias und Ina mussten alle 250 auf dem Hof lebenden Kühe, Rinder und Kälber zur Schlachtung bringen oder einschläfern lassen. Der Hof war leer, die Verzweiflung groß. Es war ein Moment, wo Matthias überlegte, aufzugeben. Zusammen mit Ina entschied er aber, weiter zu machen.
Matthias und Regina
Matthias und Regina (Ina) waren schon früh ein Paar. Als Ina 18 war, so erzählt sie, sagte ihr Matthias, dass sein Leben auf jeden Fall mit dem Hof verbunden sei und bleibe. Als sie 23 war, zogen sie zusammen. Es war schwierig, das Leben mit Schwiegereltern, die eine starke Meinung hatten zu allem und vor allem dazu, wie sie sich eine gehorsame und arbeitswillige Schwiegertochter vorstellten.
Dem jungen Paar gelang es, eine Lösung zu finden: Ina hatte auf Lehramt studiert und beschloss, in den Schuldienst zu gehen. Jenseits des Unterrichts denkt sie den Betrieb mit, kümmert sich engagiert um Gäste und Kindergruppen und ist viel für die drei gemeinsamen Kinder da.
Als die Kühe mit der Seuche vom Hof gingen, war es ihr Gehalt, dass den Betrieb mit am Leben hielt. Gemeinsam haben sie auch das Erbe für den Hof geklärt.
Beide hoffen, dass der Mittlere, Sohn Johann, eines Tages den Hof übernehmen wird. Bis zur Entscheidung sind aber noch ein paar Jahre Zeit.
Viel Arbeit, wenig Pausen
Der Klingelton seines Handys summt mir noch abends im Kopf. Ständig tönt er aufs Neue, Matthias unterbricht unser Gespräch und klärt in kürzester Zeit, was gerade zu klären ist: Was soll mit einer auffälligen Kuh als nächstes passieren, was braucht sein Sohn gerade, passt dieser Termin noch zum nächsten, ob er mal kurz gucken kommen kann…?
Als das Paar den Betrieb übernahm und einige Umbauten realisierte, machten sie 8 Jahre überhaupt keinen Urlaub. Inzwischen ist eine Woche pro Jahr möglich. Allerdings muss das Urlaubs-Sparschwein prall gefüllt sein, denn mehrere Menschen vertreten die beiden Betriebsleiter*innen in mehreren Schichten rund um die Uhr auf dem Hof. „Das sind bis zu 7.000 Euro, die uns die Urlaubswoche am Ende kostet“, sagt Ina.
Die Biogasanlage
Am Samstag fahren wir mit Matthias zu seiner Biogasanlage, die er zusammen mit seinem Cousin Martin betreibt. 600.000 kwh Strom liefert sie pro Jahr, mit der Abwärme der Stromerzeugung heizt sie sich selbst. Im Sommer allerdings ist es manchmal eine Herausforderung, die Temperaturen so zu halten, dass die Bakterien im Fermenter ihre Arbeit gut tun können. Die Anlage wird zu 100% mit Gülle und Mist betrieben, neben ihr steht ein noch größerer Lagerbehälter, den Gülle-Laster gut anfahren können, um die Gärreste mitzunehmen.
Tierwohl und Tiergesundheit
Einiges gefällt mir sehr gut auf dem Hof Everinghoff. Allem voran der Umgang mit den Tieren: niemand wird laut, liebevoll wird gekratzt und getätschelt. Auch der Auszubildende sagt, während er an einer störrischen Kuh schiebt, bis sie sich dann doch wieder in Bewegung setzt: „Es geht um Vertrauen. Wenn Du einmal im Stall brüllst, dann merken sich die Tiere das, dann ist es vorbei mit dem guten Verhältnis.“ Und er hat viel Verständnis, wenn eine Kuh sich mal in die falsche Richtung dreht und alle anderen aufhält. Da weder er den Kühen noch sie ihm in den Kopf sehen könnten, sind ruhige und klare Signale wichtig. Wenn Chaos ausbricht, gehe es meistens von den Menschen aus.
In jedem Stall gibt es Stroheinstreu, die Kühe können durch den Stall gehen und im Stehen oder Liegen am Ort ihrer Wahl wiederkäuen.
Der Landwirt betont immer wieder: die Leistung ist nicht das wichtigste Kriterium für seine Tiere. Wenn eine Kuh von Kindern oder Mitarbeiter*innen besonders geliebt wird, ist ihr manche Extraportion Streichelei und auch ein langer Verbleib auf dem Hof sicher.
Bei der Geburt dabei
Vieles ist aber auch bedrückend. Die Kälbchen bleiben nicht einmal einen Tag bei ihrer Mutter. Allerdings schreien sie dann nicht nacheinander, das habe ich auf mehreren Biohöfen erlebt und mitgelitten. Wir erleben drei Geburten und obwohl sich das Verhalten der Kühe unterscheidet, zeigen alle drei Mütter nur mäßiges Interesse an ihrem Kind. Die Kuh leckt es etwas, futtert dazwischen aus dem bereit gestellten Trog, reagiert wenig auf das Kleine. Und: Stellen sich eigentlich alle Kälbchen so dämlich an bei der Suche nach dem Euter? „Haben die eigentlich keine Instinkte mehr?“, fragt meine Mitfreiwillige. Damit jedes Kalb garantiert eine gute Portion der wertvollen Biestmilch bekommt, also die allererste Milch, die mit ihren Inhaltsstoffen eine Grundlage für das Immunsystem der Tiere legt, wird die Mutter von Hand gemolken und das Kalb mit der Flasche gefüttert. Biestmilchmanagement heißt der nüchterne Fachbegriff dazu.
Tiergesundheit und Weidemöglichkeiten
Die Euter der Kühe sind viel zu groß. Zwar sagt Matthias, dass er inzwischen viel mehr darauf achtet, dass die Bullen die Tiergesundheit ihrer Kinder positiv beeinflussen. Auch in der Züchtung sei endlich angekommen, dass die Lebensleistung viel wichtiger wird als die Spitzenleistung. Außerdem will er bestimmte Dinge definitiv nicht mehr, wie Maximal-Leistungen direkt nach der Geburt, die die Kühe zugrunde richten. Aber trotzdem sind heute auch mehrere seiner Kühe von den typischen Leiden der Hochleistungstiere betroffen: Sie hinken stark, haben immer wieder Klauenprobleme. Dass sie überhaupt nicht auf die Weide kommen, verschärft dieses Problem mangelnder Tiergesundheit.
Euterentzündungen gibt es ebenfalls immer wieder, auch wenn gerade wenige Tiere der Herde akut betroffen sind.
Längerfristig würde der Landwirt seinen Kühen gerne Weidemöglichkeiten bieten. Dafür wären Verlagerungen der Ställe nötig und neue Zäune. Einmal mehr eine ganze Menge Geld und Arbeit. Aber er ist ein Macher, die Urenkelinnen der heutigen Kühe dürfen hoffen.
Politisches Engagement
Matthias Everinghoff ist sowohl im Kreisverband des Landvolks (das ist der Bauernverband in Niedersachsen) aktiv als auch bei „Land schafft Verbindung“, der streitbaren Bauernbewegung. Kaum zu glauben, wann und wo das noch in sein Leben passt.
Gerade war er zusammen mit der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), mit Fridays for Future und den Parents for Future auf der Straße: Es ging gemeinsam gegen das Handelsabkommen zwischen EU und Mercosurstaaten. Die Landwirt:innen befürchten eine neue Welle von zu billigem landwirtschaftlichen Importprodukten, die Klimaschützer*innen warnen vor negativen ökologischen und sozialen Folgen des Abkommens in den südamerikanischen Ländern.
Mit den „Parents for Future“ steht Martin Everinghoff in regelmäßigem Kontakt. Die Zusammenarbeit soll weitere gute Ideen für eine ökologischere und klimaverträglichere Landwirtschaft hervorbringen.
Seit Matthias immer wieder mit seinen Vorschlägen öffentlich auftritt, bekommt er noch mehr Anrufe auf seinem Smartphone. Auch aus Berlin hole sich immer wieder der ein oder andere Agrarpolitiker eine Politikberatung bei ihm ab. Und dann geht es wieder um Strategien für die nächsten Aktionen und Kampagnen von LsV.
Inspirierende Ansätze für zukunftsfähige Tierhaltung
Industrialisierte Tierhaltung, mangelnde Tiergesundheit und hoher Fleischkonsum haben verheerende Auswirkungen auf Klima, Umwelt und Bauern weltweit. Neue Ideen und mutige Projekte sind nötig, um die Nutztierbestände zu reduzieren und Höfe zu erhalten. Wir stellen Initiativen vor, die diese Wende vorantreiben und andere inspirieren.