Stellt Euch vor, Ihr dürft auf einen Bauernhof spazieren und für drei Tage im Stall, im Haus und auf den Feldern alle Fragen stellen, die Euch im Kopf herumgehen.
Im Rahmen der bundesweiten Austausch-Aktion „Hof mit Zukunft“, die durch das „Wir haben es satt!“-Bündnis organisiert wurde, konnten Leonard und Jutta genau das tun. Wir durften den Biohof Nagel in der Nähe von Kassel kennenlernen, der 60 Kühe hält und sich mit ökologischer Kreislauf-Landwirtschaft beschäftigt.
Leonard beim Biohof Nagel
Über mein Praktikum bei Aktion Agrar erfuhr ich von dem Projekt „Hof mit Zukunft“. Kurzfristig angemeldet konnte ich einen Hof wählen und bekam über eine Chat-Gruppe direkt die ersten Informationen zur Organisation, Ablauf des Projektes und den Hof.
Milchkühe, Kleegras und Getreide
Der 200 ha große Biohof hat 60 Milchkühe. Diese werden mit einem Melkroboter gemolken. Die Kälber wachsen mit ihrer Mutter (muttergebundene Kälberaufzucht) und zusammen mit den anderen Kälbern auf. Zudem haben sie Platz und sind sehr verspielt. Die Milch wird an die Upländer Bauernmolkerei geliefert, welche Bauer Reinhard Nagel mitgegründet hat. Sie wird von den Bauern selbst verwaltet.
Außerdem betreibt Nagel Ackerbau und baut Kleegras, Speisegetreide oder Dinkel an was in der Region weiterverarbeitet und verfüttert wird. Das Kleegras bietet frische Proteinhaltige Nahrung für seine Kühe. Seit 11 Jahren bewirtschaftet der Hof die Ackerflächen pfluglos, um Lebewesen im Boden zu erhalten.
Bauer seit der Jugend – Learning by Doing
Reinhard Nagel empfing uns auf dem Hof im nordhessischen Nieder-Waroldern mit einem Abendbrot und begann direkt über seinen Hof zu erzählen. Der Bauer arbeitet in der Landwirtschaft, seit er 15 Jahre alt ist und pachtet den Hof seit seinem neunzehnten Lebensjahr.
Nagel ist Autodidakt und hat sich ohne Ausbildung oder Studium ein komplexes Wissen angeeignet: Von ökologischen- und landwirtschaftlichen Prozesse über Betriebswirtschaft, Mechanik und Politik bis hin zu Öffentlichkeitsarbeit. Und das alles selbst und praktisch – Learning by Doing. Nagel war Sprecher der hessischen AbL und der Interessensgemeinschaft gegen Nachbaugesetze und Nachbaugebühren (IGN). Außerdem ist er aktivistisch bei Protestaktionen der BDM und Demonstrationen des „Wir haben es satt“ Bündnisses dabei.
Lange Zeit betrieb Nagel mit seinem Biohof eine konventionelle Landwirtschaft. Doch gegenüber dieser wurde er mit der Zeit und Erfahrungen mit Hautauschlägen, durch Pestizide, skeptischer.
Ökologischer Anbau und Kreislauf-Landwirtschaft
Seit 1989 beschäftigt sich Reinhard Nagel mit dem Ökologischen Anbau und versucht seitdem eine Kreislauf-Landwirtschaft zu betreiben. Ökologisch wirtschaftet Nagel seit 1990 und ist seit 1996 offiziell als Biolandhof zertifiziert. Aus eigener Erzählung betreibt er seinen Hof aus Spaß und Leidenschaft. Er achtet auf das Tierwohl und die ökologische Nutzung der Natur (Kreislauf Wirtschaft) und arbeitet nicht fürs Geld. Nagel betreibt den Biohof mit seinem Sohn, der auch offizieller Betriebsleiter ist. Außerdem beschäftigt er einen weiteren Mitarbeiter der ursprünglich aus Rumänien kommt. Nagel strebte immer an, den Hof möglichst unabhängig zu betreiben. Er ist der Überzeugung, dass seine Art dezentraler Landwirtschaft krisensicherer und zukunftsfähiger ist.
Mit der eigenen Produktion von Futter (Kleegras) für die Tiere, dem Weglassen von Pestiziden und Zukauf von Düngemitteln und einer eigenen Heizanlage zum Verbrennen von selbst angebauten Dinkelspelz (spart 15000 Liter Heizöl) versucht er sich unabhängiger zu machen. Jedoch kommt auch Nagel nicht komplett ohne Abhängigkeiten aus und muss Bankkredite nehmen, Öl und Strom beziehen, Reparaturen am Melkroboter vornehmen lassen, tiermedizinische Pflege bezahlen und staatliche Subventionen beantragen.
Er versucht aber auf seine Art und Weise, Widerstand gegen große Agrarkonzerne und das derzeitige System der Landwirtschaft zu leisten. Des weiteren fungiert er mit seinem Hof als eine Art Gegenbeispiel für konventionelle Höfe.
Zwischenmenschliche Begegnung
Das Wochenende war für mich persönlich eine Bereicherung auf mehreren Ebenen. Ich hatte für die kurze Zeit unfassbar viele Wissensinputs zum Leben, Arbeiten und den Perspektiven eines Bioland-Bauern. Und ich konnte einen Einblick in den Betrieb eines Hofs im Zusammenspiel mit ökologischen Kreisläufen und in den Produktionsprozess von Milch erhalten.
Zudem konnte ich durch den direkten Kontakt zu Reinhard Nagel und meiner Mitteilnehmerin etwas über zwischenmenschliche Begegnungen und Kommunikation lernen. Dabei fiel mir auf, wie wichtig der direkte Austausch ist, um respektvollen und toleranten Umgang mit Menschen mit unterschiedlichen Berufen, Lebensvorstellungen und Meinungen, zu lernen. Das Projekt „Hof mit Zukunft“ bietet beides. Meiner Meinung nach kann es eine soziale und inhaltliche Bereicherung für alle Beteiligten darstellen.
Reinhard Nagel hat sich für uns Teilnehmende sehr viel Zeit genommen. Er ermöglicht uns Einblicke in sein Leben und seinen Biohof. Durch ihn wurde uns verdeutlicht, dass es Beispiele und Lösungsansätze gibt, einen landwirtschaftlichen Betrieb nachhaltiger, kreislauforientiert und mit Bedacht auf Tierwohl und Ökologie zu gestalten.
Diversität ermöglicht Krisen-Sicherheit
Dabei kommt es für Reinhard Nagel, nicht nur auf den Output bzw. Geld und Leistung drauf an, sondern auf den Input und dessen langfristigen Auswirkungen oder Folgen, die nicht direkt spürbar sind. Die Perspektiven von Herrn Nagel haben uns näher gebracht, mehre Standbeine und Ziele zu verfolgen und keine Scheuklappen zu haben, um Risiko zu streuen und sich daraus ergebene Gelegenheiten zu nutzen.
Die Spezialisierung auf eine Haltungsform oder der Anbau der immer gleichen Pflanzen führt seiner Ansicht nach zu mehr Abhängigkeiten und Unsicherheit in Krisensituationen. Multiperspektivisch und diversifiziert Landwirtschaft zu betreiben kann dagegen mehr Unabhängigkeit und Krisen-Sicherheit ermöglichen. Dabei sind ihm die Zwänge und Drucksituationen bewusst, in denen Bauern stecken. Deshalb fordert er mehr Verantwortung und Unterstützung der Politik und durch die Verbraucher:innen.
Gemeinsam überlegten wir uns drei Forderungen:
Realistische Preise für konventionelle Produkte
Kosten der konventionellen Landwirtschaft für die Umwelt und Arbeitsverhältnisse realistisch bepreisen. Dadurch wirken Bioprodukte günstiger für den Verbraucher und das Bewusstsein für die wahren Kosten der Landwirtschaft wird gestärkt.
Verpflichtendes Praktikum
Alle die etwas mit Landwirtschaft zu tun haben (Politiker, Lobbyisten, Bauern, Aktivisten, Betriebsleiter, Unternehmer) sollten im Zuge ihrer landwirtschaftlichen Ausbildung oder Studiums mindestens ein halbes Jahr verpflichtend ein Praktikum machen oder eine praktische Erfahrung auf einem Tierwohl-, Kreislauf- und Gemeinwohlorientierten Biohof oder SoLawi-Betrieb machen.
Tierbestand an Fläche koppeln
Flächengebundene Tierbestandsgrößen für eine artgerechtere Tierhaltung und extensive Weidenutzung
Inspirierende Ansätze für zukunftsfähige Tierhaltung
Industrialisierte Tierhaltung, mangelnde Tiergesundheit und hoher Fleischkonsum haben verheerende Auswirkungen auf Klima, Umwelt und Bauern weltweit. Neue Ideen und mutige Projekte sind nötig, um die Nutztierbestände zu reduzieren und Höfe zu erhalten. Wir stellen Initiativen vor, die diese Wende vorantreiben und andere inspirieren.